News  ·  06 | 07 | 2022

Erneuerung in der Kontinuität

von Raphaël Brunschwig

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Aufmerksamkeit gehört zu den raren Gütern unserer Zeit – sie zu erlangen ist eine Herausforderung. Das Publikum ist stärker fragmentiert als je zuvor, der Konsum von audiovisuellen Inhalten verlagert sich unaufhaltsam ins Web, und wir müssen uns als Festival auch mit Gewohnheiten wie dem «Binge Watching» auseinandersetzen. Wie schaffen wir es also, in diesem Umfeld attraktiv zu bleiben? 

Heute wie damals muss die künstlerische Leitung in der Lage sein, das bestmögliche Programm zu gestalten. Es gilt, drei Leitgedanken miteinander zu verbinden: für die Qualität unserer Inhalte einstehen, unseren stillen Vertrag mit dem Publikum von gestern, heute und morgen stetig erneuern und die Unterstützung von Institutionen und Partnern sicherstellen.  

Wir schaffen, schauen und diskutieren Filme 365 Tage pro Jahr, im Kino und online. Film und Kino koexistieren in der modernen Medienlandschaft mit einer wachsenden Zahl von kulturellen Angeboten. Für ein Festival ist es wesentlich, an dieser Unterhaltung und diesen Erfahrungen aktiv teilzuhaben – und zwar als Protagonist. 

Um den erweiterten Erfahrungshorizont des Publikums zu kanalisieren, müssen wir experimentieren und etwas wagen. Wir wollen unsere verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten weiterentwickeln: in der Bildung, Kulturvermittlung, Kreation und Verbreitung künstlerischer Inhalte. Das Locarno Film Festival war ein Vorreiter dieser Trends, denken wir nur an die Academys, die sich mittlerweile über die ganze Welt verteilen. In den letzten Jahren konnten wir dank diesem offenen Ansatz der Innovation rund fünfzehn dynamische und ehrgeizige Projekte entwickeln. Sie sind als Erweiterung des Festivals im August entstanden und das Ergebnis eines intensiven Austauschs mit all unseren Kurator*innen. 

Emblematisches Beispiel ist das BaseCamp: ein Labor für 200 junge Künstler*innen, das unsere Entwicklung kontinuierlich vorantreibt. Ähnlich verhält es sich mit den Locarno Shorts Weeks, unserem ersten Versuch, die Festivalinhalte digital an ein neues Publikum zu vermitteln, oder mit der Präsenz des Concorso Cineasti del presente auf Swisscom Blue TV ab der Festivalausgabe 2022. Ausserdem haben wir Online-Plattformen geschaffen, die ganz der Filmindustrie gewidmet sind, wie z. B. die Open Doors ToolBox, die eine Gemeinschaft von mehr als 1 300 Personen um sich versammelt und weiter wächst. Mit dieser Initative ist es uns in etwas mehr als einem Jahr gelungen, die Zahl der Talente zu verzehnfachen, welche die Ressourcen nutzen, die wir ihnen zur Verfügung stellen. 

Unsere Veranstaltung im August wird sich weiterhin auf das Kino als Kunst mit tausendundeiner Facette konzentrieren. Sie wird aber zum Gravitationszentrum zahlreicher anderer Initiativen – eine Sonne im immer lebendigeren, reicheren und für alle zugänglichen Universum des Locarno Film Festival. Wir möchten eine ganzjährige Wirkung entfalten, um neue Bildwelten anzuregen und gleichzeitig ständig in Verbindung mit unserem sich stetig verändernden Publikum zu bleiben. Mit Hilfe der Digitalisierung können wir  Zeit und Raum überwinden und den intensiven Dialog, der unsere elf Festivaltage  prägt, über seine natürlichen Grenzen hinaus tragen, neuen Stimmen noch mehr Gehör verschaffen und die künftige Existenz und Relevanz des Locarno Film Festivals sichern.

Raphaël Brunschwig
Direktor des Locarno Film Festival