News  ·  10 | 07 | 2024

Kino ist unsere Mission

von Giona A. Nazzaro

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Stellen wir uns vor: Was wäre, wenn das Kino nicht (nur) ein Abbild der Wirklichkeit wäre, sondern auch ein Traum von der Realität? Damit sind wir bei den Ursprüngen des Kinos und der Frage, wofür es stehen soll: beim Lumière-Méliès-Dilemma. Bei näherer Betrachtung könnte man sagen, dass die Brüder Lumière die wahren Visionäre waren (die Neuerfindung der Realität), während Méliès der Dokumentarist war (die unmittelbare Erzählung der Funktionsweise der «Maschinerie» Kino). Dieses Spannungsfeld bildet den Rahmen für die neue Ausgabe des Filmfestivals Locarno mit seiner facettenreichen Filmwelt. Kaum war der Vorhang des letzten Festivals gefallen, da haben wir schon mit der Auswahl begonnen: Film für Film haben wir ein buntes Mosaik geschaffen, das die Vielfalt des zeitgenössischen Kinos widerspiegelt. In dem Bewusstsein, dass das Kino als Kunstform nur im Dialog mit einem breiten Publikum existieren kann, haben wir die Behaglichkeit des Elitären vermieden und uns als Kritiker/innen, Programmgestalter/innen und Kurator/innen einmal mehr in Frage gestellt. Und selbstverständlich auch als Zuschauer/innen.

Der Erfolg der letzten Ausgabe ist unbestreitbar. Die Filmauswahl war ein Volltreffer: beim Publikum, bei der Kritik und auf dem Markt, denn die gezeigten Filme fanden ihren natürlichen Absatzmarkt in den Kinos. Innerhalb der Filmbranche sind Festivals Teil des Diskurses, und Locarno als grösste Schweizer Filmveranstaltung ist ein wichtiger Teil davon. Eine Stellung, die wir für uns beanspruchen und verteidigen. Im Dienste des Autorenkinos in all seinen Ausprägungen ist der Wettbewerb mit klingenden Namen besetzt.

Von Hong Sang-soo, Wang Bing, Ben Rivers, Pia Marais, Silvia Luzi und Luca Bellino über Ala Eddine Slim, Gürcan Keltek und Kurdwin Ayub, Christoph Hochhäusler, die Gebrüder Zürcher und Laurynas Bareiša, Mar Coll und Sara Fgaier, Marta Mateus, Sylvie Ballyot und Virgil Vernier: Mit so renommierten Drehbuchautor/innen verspricht der Wettbewerb einen tiefen Einblick in die Möglichkeiten der zeitgenössischen Filmsprache.

Ein ehrgeiziger Wettbewerb, der bewusst und kritisch den Dialog mit dem Publikum sucht, in einer Zeit, in der die Geschichte, die grosse Geschichte und alle ihre Geschichten unerbittlich an die Türen des Kinos klopfen. Ohne dabei auf das Vergnügen zu verzichten. Wie lässt sich eine fruchtbare Verbindung mit dem Publikum und den abenteuerlustigen Zuschauer/innen herstellen, die Zeit investieren, um der Welt zu begegnen? Wie können wir – aufs Neue - einen Platz im Leben der Menschen zurückerobern, der sich von der ununterbrochenen Flut von Nachrichten und Bildern unterscheidet, denen wir in der heutigen Kommunikation überall ausgesetzt sind?

Die Namen, die aufgerufen sind, sich an diesem Gespräch über unsere Epoche zu beteiligen und sie neu zu denken, sind die der Schlüsselfiguren in der Entwicklung des zeitgenössischen Kinos. Auch in den Sektionen ausserhalb des Wettbewerbs gibt es Künstler/innen, die zentrale Elemente in dieser lebenswichtigen Diskussion sind: Edgar Pêra, Radu Jude, Bertrand Mandico und Fabrice Du Welz mit ihren Strategien, den filmischen Essay neu zu denken, oder Marco Tullio Giordana und Isild Le Besco mit einem Kino, das in unausgesprochenen familiären Abgründen und den von ihnen verursachten Traumata wurzelt.

Wenn man die Liste der Länder durchblättert, die in den diversen Sektionen vertreten sind, bekommt man eine Ahnung davon, wie die Welt sein könnte: eine andere mögliche Welt, polyzentrisch und offen für Andersartigkeit und den Anderen, eine neugierige und grosszügige Welt.

In Anlehnung an Roberto Rossellini bleiben wir davon überzeugt, dass Kino «Arbeit für die Menschheit» bedeutet: die Erforschung der filmischen Sprachen, die noch möglich sind, und das Hinterfragen der Themen, die uns bewegen. Unwiederholbare Momente des Vergnügens, die wir gemeinsam vor der grössten Leinwand der Welt erleben. Momente, in denen sich verschiedene Gemeinschaften vor einem Film wie um ein Lagerfeuer versammeln, um sich an der Freude des Erzählens zu wärmen und sich als Gesellschaft wiederzufinden.

In der Begegnung wird Zukunft gedacht und gestaltet.

Das Kino des Hier und Jetzt, ohne jemals dem trügerischen Trost der Nostalgie zu verfallen. Zum Beispiel mit unserer Retrospektive zum hundertjährigen Jubiläum von Columbia Pictures, mit der wir in das Herz eines noch weitgehend unerforschten Erbes eintauchen. Wir beleuchten den Glamour, die Unterhaltung und die Innovation eines Kinos, das unser Denken über bewegte Bilder geprägt hat.

Ihnen allen wünsche ich: «Buon cinema»!

Bis bald auf der Piazza Grande!

 

Giona A. Nazzaro
Künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival