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Die Retrospektive der 74. Ausgabe des Locarno Film Festivals (4.-14. August), initiiert vom neuen künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro und kuratiert von Roberto Turigliatto, wird dem Regisseur Alberto Lattuada gewidmet sein. Er ist eine wichtige, aber oft unterschätzte Figur – seine lange und faszinierende Karriere umfasst mehr als 40 Jahre italienischer Filmgeschichte, von seinem Debüt 1943 mit Giacomo l'idealista (Giacomo the Idealist) bis zu Una spina nel cuore (A Thorn in the Heart, 1986). In der frühen Nachkriegszeit wurde der «Formalist» Lattuada Teil des neorealistischen Kinos, bewahrte jedoch seine Kultiviertheit und sein Raffinement, das er mit einer Vorliebe für Genre und populäre Erzählungen verband.
Nach vorherigen Retrospektiven, die den italienischen Produktionsfirmen Lux und Titanus gewidmet waren, kehrt das Locarno Film Festival nun mit Alberto Lattuada, der selbst für diese beiden Filmgesellschaften am Anfang seiner Karriere gearbeitet hat, zur Geschichte des italienischen Kinos zurück. Durch die Präsentation seiner kompletten Filmografie (mit vielen Werken, die auch von den Fachleuten noch wenig erforscht sind) werden wir versuchen, ein neues Licht auf einen Regisseur zu werfen, der vor allem ausserhalb Italiens noch wenig bekannt ist.
Lattuada, der oft für schwer einzuordnen oder exzentrisch gehalten wird, erweist sich jedoch als ein Filmschöpfer von ausserordentlicher Modernität, der Kultiviertheit und Popularität vereint. Lattuada, der sich als Intellektueller, Architekt, Kritiker und Fotograf in seinen frühen Jahren betätigt hat, blieb stets der Moderne treu, wie sie das lebhafte kulturelle Klima Mailands prägte, und erwies sich als kritischer Beobachter und Vordenker der grossen Transformationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als erfolgreicher Regisseur arbeitete er mit einigen der wichtigsten italienischen und internationalen Schauspielern der damaligen Zeit zusammen und entdeckte viele talentierte Darstellerinnen wie Jacqueline Sassard, Catherine Spaak, Nastassja Kinski und Clio Goldsmith.
Giona A. Nazzaro, künstlerischer Leiter des Filmfestivals Locarno: «Alberto Lattuada ist der Autor einer spannenden, abwechslungsreichen und vielschichtigen Filmografie. Als rastloser, neugieriger, grosszügiger und politischer Regisseur gelang es ihm, seine Einzigartigkeit und Individualität zu bewahren, indem er sich immer wieder selbst auf die Probe stellte und mit Filmgenres experimentierte, ohne jemals den Bezug zum Publikum zu verlieren. Das Gesamtwerk von Alberto Lattuada wiederzuentdecken bedeutet, das bestgehütete Geheimnis des italienischen Kinos ans Licht zu bringen. Ein paradoxes, faszinierendes, immer noch rätselhaftes Geheimnis».
«Nichts kann das Wesentliche einer Nation so offenbaren wie das Kino»: So definierte Alberto Lattuada 1945, was für ihn die siebte Kunst war, als er sich gemeinsam mit anderen Regisseuren daran machte, das Kino zu einem Ort der bürgerlichen, politischen und moralischen Teilhabe zu machen. Seine Leidenschaft für das Kino entfachte bereits während seiner Studienzeit durch seine Tätigkeiten als Filmliebhaber und Kritiker sowie durch die Organisation von Filmfestivals. Diese Erfahrungen führten dazu, dass er bald zu den Förderern jener Filmsammlung gehörte, aus der nach dem Krieg die Cineteca Italiana in Mailand werden sollte, und mit Regisseuren wie Soldati und Poggioli zusammenarbeitete. Nach seinem Regiedebüt 1943 mitGiacomo l'idealista (Giacomo the Idealist) zeigte Lattuada in Il bandito (The Bandit, 1946) zunächst ein ganz persönliches Bekenntnis zum Neorealismus, offen für die Einflüsse des Hollywood-Genrekinos, mit einer besonderen Vorliebe für Detektivgeschichten und den Melodramen, wie der nachfolgende Film Senza pietà (Without Pity, 1948) beweist. Gleichzeitig gelang es Lattuada auch in seinen vielen literarisch geprägten Filmen, wie Il mulino del Po (The Mill on the Po, 1949), sich dem Individuum und seinen sozialen Konnotationen in einer Art zuzuwenden, die über die neorealistische Sensibilität hinausgeht. In den 1950er Jahren, nachdem er gemeinsam mit Federico Fellini Luci del varietà (The Lights of Variety, 1950) gedreht hatte, wurde sein Blick nüchterner und galt nun verstärkt den wirtschaftlich bedrängten Menschen jener Jahre, die er in Il cappotto (The Overcoat, 1952), La spiaggia (The Beach, 1954) und Mafioso (1962) mit präziser Aufmerksamkeit darstellte. Gleichzeitig war er aber auch offen für Lebensfreude und Sinnlichkeit als Wege der Selbstfindung, die die Protagonisten von Anna (1951), Guendalina (1957) und Dolci inganni (Sweet Deceptions, 1960) kennzeichnet. Lattuadas Fähigkeit, sich mit ständig frischer Kreativität zu erneuern, führte ihn dazu, weitere Literaturadaptionen zu inszenieren, das Territorium der Kostümsatire, des Krimis und des Kriegsfilms zu durchpflügen, bis hin zu Drehbüchern und Filmen für das Fernsehen, wie Cristoforo Colombo (Christopher Columbus, 1985) und sein letztes Werk, Mano rubata (1989).
Roberto Turigliatto, Kurator der Retrospektive des Filmfestivals Locarno: «Sinnlichkeit, Schönheit, Zweideutigkeit, Beherrschung der Form, Perfektionismus und Experimentierfreude kennzeichnen das ausserordentlich vielfältige Werk eines freien, neugierigen und unkonventionellen Mannes, das es heute mehr denn je wiederzuentdecken gilt».
Um das Locarno-Publikum auf die Retrospektive einzustimmen, werden in den nächsten Monaten auf den offiziellen Kanälen des Festivals Videoclips von einigen Filmexperten und Persönlichkeiten des italienischen und internationalen Kinos veröffentlicht, die sich mit Lattuada und seinem Werk auseinandergesetzt haben. So wird eine Sammlung von Ideen und Standpunkten zusammengestellt, die die Live-Debatte im August eröffnen wird. «Verso Lattuada», wie der Name der Initiative lautet, wird im Februar mit den Reflexionen der italienischen Filmkritiker Paolo Mereghetti und Maurizio Porro, den Protagonisten der ersten beiden Videoclips, eröffnet.
Die Retrospektive wird vom Locarno Film Festival in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, der Cineteca Nazionale - Fondazione Centro Sperimentale di Cinematografia, der Fondazione Cineteca di Bologna, der Fondazione Cineteca Italiana und dem Istituto Luce-Cinecittà organisiert. An dem Projekt sind auch renommierte Schweizer und internationale Institutionen beteiligt, die dafür sorgen, dass die Retrospektive bis 2022 unterwegs sein wird. Zu den bereits bestätigten Institutionen gehören: Cinémathèque suisse; Cineteca Madrid; EYE Filmmuseum Amsterdam; Filmpodium Zürich; I Mille Occhi in Trieste; Les Cinémas du Grütli in Genf; Museo Nazionale del Cinema in Torino; National Gallery of Art in Washington.
Die 74. Ausgabe des Locarno Film Festival findet vom 4. bis 14. August 2021 statt. Das Team des Festivals arbeitet unter strikter Einhaltung der Gesundheitsbestimmungen daran, eine vollständige Ausgabe der Veranstaltung zu ermöglichen. Das Festival behält sich das Recht vor, bei Bedarf organisatorische Änderungen vorzunehmen, die zu gegebener Zeit den Medien und der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden.
Alberto Lattuada, italienischer Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, Sohn des Komponisten Felice Lattuada, wurde am 13. November 1914 in Mailand geboren. In der lombardischen Hauptstadt machte er seinen Abschluss in Architektur, doch schon bald wandte sich sein Interesse der Fotografie und dem Kino zu. Nachdem er sich als Kritiker versucht hatte, gab er 1943 mit Giacomo l'idealista (Giacomo the Idealist) sein Debüt hinter der Kamera. Unmittelbar nach dem Krieg näherte er sich mit Il bandito (The Bandit, 1946) dem Neorealismus an, mit Carla Del Poggio in der Hauptrolle, die seine Frau werden sollte. Er entdeckte viele junge Schauspielerinnen, darunter Catherine Spaak (Dolci inganni, Sweet Deceptions, 1960) und Nastassja Kinski (Così come sei, Stay as You Are, 1978), und mit seinen späteren Filmen interpretierte er den Geist Italiens in den 1970er und 1980er Jahren: berühmt sind seine Zusammenarbeiten mit Ugo Tognazzi (Venga a prendere il caffè… da noi, Come Have Coffee with Us, 1970), Renato Pozzetto (Oh, Serafina!, 1976) und Virna Lisi (La cicala, The Cricket, 1980). 1998 schenkte er sein gesamtes Archivmaterial der Fondazione Cineteca Italiana in Mailand, die er 1947 mitbegründet hatte, während Carla Del Poggio ihr Archiv der Cineteca di Bologna schenkte. Lattuada starb am 3. Juli 2005 in seinem Haus in Orvieto.